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Goethe als Freund des Islam? Obwohl eine umfassende
Studie von Katharina Mommsen bereits 1987 aufzeigte, wie tief die Verbundenheit
des großen Dichters, Gelehrten und Aufklärers mit der Geisteswelt
des Islam war, wurden diese Aspekte - ebenso wie in den Jahrzehnten der
Goetheforschung zuvor - kaum in die Rezeption aufgenommen. Peter Anton von
Arnim brachte als Insel-Taschenbuch eine gekürzte und leicht kommentierte
Ausgabe heraus, die es nicht nur im Gedenken des 175. Todesjahres Goethes
verdient, gelesen zu werden. Als Brücke zum Islam ist das Buch spannend, weil
viele Diskussionen von damals uns heute noch immer beschäftigen. Eine
erfrischende Lektüre gerade in einer Zeit, da viel vom "clash of
civilisations" die Rede ist, dem Goethe sein Konzept von
"Weltliteratur" entgegenzusetzen hätte.
Hier ein sehr ausführlicher Artikel von Herrn von Arnim, den er uns
dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat:
Buchtipp:
"Goethe und der Islam", ISBN 3-458-34350-4
Selbst bei denen, die ihren Goethe gut zu kennen meinen, ist bis heute nicht
ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass Goethe zum Islam in einer engen
Beziehung stand. Vielmehr ruft der Hinweis darauf oft nicht nur
ungläubiges Erstaunen, sondern gelegentlich sogar einen empörten Ausdruck
der Zurückweisung hervor. Vermutlich werden auch einige unter Ihnen meinen
Vergleich des Stellenwerts der antiken Mythologie in Goethes Werk mit dem des
Islam wenn nicht für völlig unglaubwürdig, so zumindest für übertrieben
halten. Wer die herrliche Frucht einer im fünfundsechzig¬jährigen Goethe
neu erwachten Jugend, seine Gedichtsammlung des "West-östlichen
Divan" kennt, wird immerhin den Einfluss des Orients auf den Dichter nicht
abstreiten wollen. Aber es ist dazu immer wieder zu hören, Goethe habe
sich lediglich seiner Geliebten Marianne von Willemer zu Gefallen ein
orientalisches Kostüm zugelegt, er habe also gewissermaßen schon
seinerzeit einer Orientalismus-Mode gehuldigt, die im Bismarckschen Kaiserreich
in Friedrich von Bodenstedts "Liedern des Mirza Schaffy" eine
tändlerische Scheinblüte erleben sollte. Ich möchte aber auf der
These bestehen, dass es sich bei Goethe nicht um eine allgemeine
Orient-Schwärmerei, sondern um eine tief innere Beziehung zu der vom
Propheten Mohammed verkündeten Lehre gehandelt hat. Ja, ich meine beweisen zu
können, dass der Islam zeitweilig mindestens in gleich eindringlichem
Maße auf Goethes religiöse Überzeugungen eingewirkt hat wie die
antike Mythologie. Nehmen wir jenen eindrucksvollen Vierzeiler aus dem
"Divan":
Närrisch, daß jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
Im Islam leben und sterben wir alle.
Wer von uns hatte allerdings bislang vorstehenden Vierzeiler ernsthaft als ein
Bekenntnis Goethes wahrgenommen? Nun gut, nicht alles, was der Dichter als
Poesie ausspricht, muss als ein Bekenntnis gewertet werden. Goethe hat das in
den "Noten zu besserem Verständnis des west-östlichen
Divan" in dem Abschnitt über den persischen Dichter Hafis selbst betont.
Besagte "Noten" jedoch will Goethe selbst nicht als ein poetisches
Produkt, sondern als Frucht seiner durchaus ernsthaft betriebenen
wissenschaftlichen Studien verstanden wissen, auch wenn sie ein herrliches
Stück poetischer Prosa darstellen, wie das ja auch bei seiner in
wissenschaftlicher Absicht verfassten "Farbenlehre" der Fall ist.
Wenn er aber dann in dem Kapitel "Zweifel", nachdem er versucht hat
zu erklären, warum die orientalische Poesie uns fremd erscheinen muss,
hinzusetzt -
Es ist aber nicht die Religion, die uns von jener Dichtkunst entfernt. Die
Einheit Gottes, Ergebung in seinen Willen, Vermittlung durch einen Propheten,
alles stimmt mehr oder weniger mit unserm Glauben, mit unserer
Vorstellungsweise überein.
- dann kann man das zweifellos durchaus als Ausdruck seiner innersten
Überzeugung werten. Ich werde die Bedeutung jedes einzelnen dieser drei
Punkte: "die Einheit Gottes, Ergebung in seinen Willen, Vermittlung durch
einen Propheten" im Verlauf meines Vortrags näher erläutern. Man
muss allerdings davon ausgehen, dass Goethe, wenn er hier behauptet, es bestehe
eine Übereinstimmung der genannten Glaubensinhalte mit "unserm
Glauben, unserer Vorstellungsweise", er damit, ob er sich dessen nun
bewusst war oder nicht, weitgehend nur für sich selbst spricht und wohl kaum
für seine deutschen Landsleute. "Ergebung in Gottes Willen", das ist
eben die Bedeutung des arabischen Wortes "Islam", wie das im oben
zitierten Vierzeiler bereits erklärt wird. Goethe hat dazu Näheres
ausgeführt in den "Noten", und zwar innerhalb des Kapitels
"Künftiger Divan" im Abschnitt über das "Buch der
Parabeln". Darin spricht er davon, dass man die orientalischen Parabeln in
drei Rubriken enteilen könne, in ethische, moralische und asketische, und
fährt dann fort:
Diesen läßt sich eine vierte anfügen: sie stellen die wunderbaren
Führungen und Fügungen dar, die aus unerforschlichen, unbegreiflichen
Ratschlüssen Gottes hervor¬gehen; lehren und bestätigen den eigentlichen
Islam, die unbedingte Ergebung in den Willen Gottes, die Überzeugung,
daß niemand seinem einmal bestimmten Lose ausweichen könne.
Es ließen sich noch eine ganze Reihe von privaten, meist brieflichen
Äußerungen Goethes anführen, worin er im Sinne des oben zitierten
Vierzeilers vom Islam als von seiner höchst eigenen Überzeugung
spricht, ja dieses Gedicht sozusagen in einer dem jeweiligen Brief
entsprechenden Prosafassung wiedergibt:
Am 29. Juli 1816 schreibt Goethe an den Freund Heinrich Meyer:
Und so müssen wir denn wieder im Islam, (das heißt: in unbe¬dingter
Hingebung in den Willen Gottes) verharren, welches uns dann fernerhin nicht
schwer sein wird, wenn es uns ein we¬nig glimpflicher geht als bisher.
Als seine Schwiegertochter gefährlich erkrankt war, schrieb er an seinen
Freund Zelter am 20. September 1820 in Anspielung auf jenen Vierzeiler aus dem
"Divan":
Weiter kann ich nichts sagen, als daß ich auch hier mich im Islam zu
halten suche.
Ähnlich äußerte sich Goethe, als im Jahre 1831 die Cholera um
sich gegriffen hatte. Er schreibt der Rat suchenden Freun¬din Adele
Schopenhauer, wiederum auf jenen Vierzeiler anspielend, am 19. September 1831:
Hier kann niemand dem anderen raten; beschließe was zu tun ist jeder bei
sich. Im Islam leben wir alle, unter welcher Form wir uns auch Mut machen.
In einem Brief vom 22. Dezember 1820 bedankt sich Goethe bei seinem Freund
Johann Jakob von Willemer für dessen Aphorismen¬samm¬lung, betitelt
Lebensansichten. Ein Buch für Jünglinge. Frankfurt 1821, und schreibt dazu:
Es stimmt [...] zu jeder religiös-vernünftigen Ansicht und ist ein Islam,
zu dem wir uns früher oder später alle bekennen müssen.
Noch kurz vor seinem Tode, am 9. Februar 1832, schrieb der 82jährige
Dich¬ter, als wiederum die Cholera zu wüten begonnen hatte, an Marianne von
Willemer:
Hier am Orte und im Lande ist man sehr gefaßt, indem man es abzuwehren
für unmöglich hält. Alle dergleichen Anstalten sind aufgehoben.
Besieht man es genauer, so haben sich die Men¬schen, um sich von der
furchtbaren Angst zu befreien, durch einen heilsamen Leichtsinn in den Islam
geworfen und ver¬trauen Gottes unerforsch¬lichen Ratschlüssen.
Man kann jedoch von Goethes Beziehung zum Islam und zu seinem Propheten nicht
sprechen, ohne daneben zugleich den Namen des jüdischen Philosophen Spinoza zu
erwähnen (den allerdings die orthodoxen Juden Amsterdams als Ketzer aus
ihrer Gemeinde ausgestoßen hatten), den Goethe ebenso hoch verehrt hat,
gerade auch im Hinblick auf seine gleichlautende Lehre von der Determiniertheit
allen Geschehens durch Gott. Gewiss, eine gleiche Glaubenslehre findet sich
gelegentlich auch im christlichen Schrifttum. So heißt es etwa in
Matthäus 10, Vers 29 und 30:
Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Dennoch fällt deren
keiner auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem
Haupte alle gezählt.
Aber in einer solchen, das ganze Leben umfassenden Eindringlichkeit wie bei
Spinoza oder im Islam ist diese Einstellung im Christentum nicht zu finden. In
der Zeit der Entstehung des "West-östlichen Divan" war Goethe
ein eifriger Leser der damals von dem österreichischen Diplomaten,
Orienta¬listen und Übersetzer Joseph v. Hammer herausgegebenen
orientalisti¬schen Zeitschrift "Fundgruben des Orients". Darin fand
er, vom Herausgeber formuliert, eine "Antwort auf die Frage: Welchen
Einfluss hatte während der ersten drei Jahrhunderte nach der Hidschra
[Auszug des Propheten und seiner Jünger von Mekka nach Medina] der Mahometismus
[gemeint ist der Islam] auf den Geist, die Sitten und die Regierung der
Völker, bei denen er Fuß gefasst hat?" Hammers Antwort lautete:
Ergebung in den Willen Gottes und Vertrauen in die Vorsehung bilden das Wesen
des Islam. Vertrauen in die Zukunft: Inschallah: wenn Gott will oder wenn es
Gott gefällt; und Ergebung in das Vergangene, Maschallah: was Gott will,
oder was Gott gefällt. Nichts unternehmen ohne die himmlische Hilfe
erfleht zu haben: Bismillah: im Namen Gottes, und nichts beenden ohne
Danksagung: Elhamdulillah: Lob sei Gott. Diese vier Worte, sozusagen die vier
Eckpfeiler in der Ethik des Islam, führen alle Muslime ständig im Munde.
Auch der Einfluss von Spinoza auf Goethe war lange Zeit ein Tabu-Thema in der
Goethe-Forschung. Momme Mommsen war einer der Ersten, der sich in zwei Studien
diesem Thema zugewendet und der auch die erste umfassende Monographie über Goethes
Beziehung zu Spinoza, diejenige von Martin Bollacher, angeregt hat. Er hat auf
eines der Hindernisse hingewiesen, welches bei uns modernen Europäern dem
Verständnis von Goethes Verehrung für Spinoza [und damit zugleich des
Islam] entgegensteht, nämlich, dass im allgemeinen die Denkweise neuerer
Zeit zum Indeterminismus neigt, wogegen Goethe den Determinismus [sowohl]
Spinozas [als auch der Muslime] uneingeschränkt willkommen hieß. Die
Schwierig¬keit, sich den Determinismus als Denkweise zu eigen zu machen, hat
Albert Einstein mit folgenden Worten treffend gekennzeichnet:
Spinoza ist der erste gewesen, der den Gedanken der deterministischen
Gebundenheit allen Geschehens wirklich konsequent auf das menschliche Denken,
Fühlen und Handeln angewendet hat. Nach meiner Ansicht hat sich sein Standpunkt
unter den um Klarheit und Folgerichtigkeit Kämpfenden nur darum nicht
allgemein durchsetzen können, weil hierzu nicht nur Konsequenz des
Denkens, sondern auch eine ungewöhnliche Lauterkeit, Seelengröße
und Bescheidenheit gehört.
Nun soll hier nicht eingehend der Frage nachgegangen werden, ob Goethe im
formalen Sinne ein Muslim war oder nicht. Nach dem Erscheinen des Buchs von
Katharina Mommsen ist in der Tat darüber eine Debatte eröffnet worden, und
zwar von Seiten deutscher Muslime, die verständlicherweise ein Interesse
daran haben, den größten deutschen Dichter als einen der ihren
betrachten zu können.
Ich möchte immerhin mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge halten und
stichwortartig andeuten, wie ich die Sachlage sehe:
1) Goethe hat "Religionsveränderungen" [=Konversionen] abgelehnt
und hat folgerichtig dem Christentum auch nie abgeschworen, ja einmal bekennt
er trotzig, am 7.4.1830 dem Kanzler F.v.Müller: ”Sie wissen, wie ich das
Christentum achte, oder Sie wissen es vielleicht auch nicht; wer ist denn noch
heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob
ihr mich gleich für einen Heiden haltet.“
2) Hier ist übrigens ein Paradox der damaligen Zeit zu vermerken. Goethe, Schiller,
Hölderlin und andere Dichter der Zeit haben sich in ihren Dichtungen
unbekümmert Motiven aus der antiken Mythologie, die ja eine Religion der
Vielgötterei darstellte, in einer Weise bedient, dass man den Eindruck
gewinnen könnte, sie seien ernsthaft vom monotheistischen Christentum zum
heidnischen Götterglauben zurückgekehrt. Dennoch nahmen die Vertreter der
Kirchen kaum Anstoß daran, ja sie wären gar nicht auf den Gedanken
gekommen, diese Dichter des Rückfalls ins Heidentum zu bezichtigen.
Paradoxerweise wurden damals vielmehr die streng monotheistischen Muslime als
"Heiden" verteufelt, und insofern gehörte Mut dazu, wenn einer
sich seinerzeit in Deutschland zum Islam bekannte. Das aber tat Goethe, wenn
auch auf seine zurückhaltende Art, als er in der Ankündigung zum
West-östlichen Divan vom 3. Januar 1816 öffentlich gestand, der
Dichter desselben "lehne den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein
Muselman sei".
3) Soviel ist gewiss: in theologisch-dogmatischer Hinsicht stand Goethe dem
Islam weit näher als den Lehren der christlichen Kirchen. Insbesondere
lehnte er die Dreifaltigkeitslehre ab und damit die Lehre von der
Gottessohnschaft Jesu, welche auf dem Konzil von Nicea im Jahre
325 nach Christus zum alleingültigen Dogma erhoben worden war. (Die damals bei
diesem Konzil unterlegenen Tendenzen, d.h. die Arianer und andere christliche
Sekten, wurden später vor allem im byzantinischen Reich grausam
unterdrückt und verfolgt. Kein Wunder, dass viele dieser zu Abtrünnigen
erklärten Christen nach dem Auftreten des Propheten Mohammed sich dem
Islam zuwandten und somit zum Siegeszug des Islam durch den ganzen Orient
beitrugen.) Goethe stimmte voll mit der gegen das Dreifaltigkeits-Dogma
gerichteten 112.Sure des Koran überein, die ihm unter anderem im 1811 publizierten
zweiten Band der Fundgruben des Orients in der Übersetzung Josef v.
Hammers vorlag:
Das Bekenntniß der Einheit.
1. Sag': Gott ist Einer,
2. Er ist von Ewigkeit;
3. Er hat nicht gezeugt,
4. Er ward nicht gezeugt,
5. Ihm gleich ist Keiner.
An dieser Stelle möchte ich einige Verse aus einem Gedicht zitieren, das
Goethe, Rücksicht nehmend auf die Bedenken seines jungen katholischen Freundes
Sulpiz Boisseré, zu seinen Lebzeiten unter Verschluss gehalten hat, und das
erst 1836, also vier Jahre nach seinem Tode, veröffentlicht und dann
fälschlicherweise dem "Buch Suleika" zugeordnet wurde. Es
beginnt mit der Verszeile: "Süßes Kind, die Perlen¬reihen...".
Außer jenem offenen Bekenntnis zur Lehre des Propheten Mohammed, das ich
meinem Vortrag als Titel vorangesetzt habe, besteht eine weitere Eigenheit
dieses Gedichts darin, dass Goethe hier seiner Abneigung gegen das christliche
Kreuzeszeichen entschiedenen Ausdruck verleiht, und gerade das war es, woran
Boisseré vornehmlich Anstoß nahm. Die für unsere Frage entschei¬den¬den
zwei Strophen lauten jedoch:
Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte,
Kränkte seinen heilgen Willen
Und so muß das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen;
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.
4) Wer Goethe jedoch mit seiner Versicherung: "Im Islam leben und sterben
wir alle" (die in seiner Sicht ja auch ihn als Christen mit einschloss)
unbedingt zu einem Muslim erklären möchte, dem sei das anheim
gestellt, denn dem Wortsinn nach ("wenn Islam Gott ergeben
heißt") konnte er sich eben in der Tat als einen solchen verstehen.
Nach der Lehre des Koran ist allerdings Gott selbst die letzte Instanz, die
entscheidet, wer in seinem Leben ein Muslim war und wer nicht; es gibt da
keinen Papst, der bereits vor dem Jüngsten Gericht bestimmen kann, ob jemand
als Seliger oder gar als Heiliger zu gelten hat und ob ihm somit ein Platz im
Paradies gesichert ist. Im Gegensatz jedoch zur islamischen Orthodoxie, die in
der Einhaltung bestimmter formaler Verhaltens¬regeln den einzigen Weg zum Heil
sieht, fand Goethe sich in seinen Anschauungen bestätigt durch die zweite
Sure des Koran, in der mehrmals betont wird, dass es letztendlich nicht auf die
Form, sondern auf die inhaltliche Erfüllung der Bestimmungen des Islam ankommt,
und er hat sich bereits als Zweiund¬zwanzig¬jähriger die betreffenden
Stellen aus der gerade damals in Frankfurt von einem Professor Megerlin ins
Deutsche neu übersetzten Ausgabe des Koran notiert, so auch den Vers 172:
Darinn besteht eben nicht die Gerechtigkeit, dass ihr eure Angesichter richtet
gegen Morgen oder gegen Abend, sondern darinn ist die Gerechtigkeit: wer recht
glaubet an Gott, und an den iüngsten Tag, und an die Engel, an die Schrift, und
Propheten: und wer ferner von seinem Vermögen giebt, um der Liebe Gottes
Willen, seinen Verwandten, den Waisen, den Armen, den reisenden Pilgrimen, den
Bettlern, und den Gefangenen Sklaven zur Erlösung, wer auch das Gebet
beständig verrichtet, sein Bündniss hält, wo er Treue versprochen,
und der sich gedultig erweisst in Widerwärtigkeiten, und
Unglücksfällen, und zur Zeit der kriegrischen Gewaltthätigkeit:
solche sind die so wahrhafftig sind und Gott fürchten.
5) Gewiss ist aber auch, dass Goethe, lebte er heute in einem sogenannten
islamischen Staat wie Pakistan, Saudi-Arabien, Sudan oder Mauretanien, mit
vielen seiner Ansichten auf Widerstand stoßen und vermutlich zum Ketzer
erklärt und hingerichtet oder von den Fundamentalisten ermordet würde. Und
genau das ist das treffende Stichwort: Goethe war, theologisch gesehen, kein
Heide, als welchen er sich spaßeshalber gelegentlich selbst bezeichnete,
er war ein Ketzer. Zu seinen theologischen Lieblingsbüchern mit Bezug auf das
Christentum gehörte Gottfried Arnolds "Unparthey¬ische Kirchen- und
Ketzer-Historie. Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi
1688". Er selbst schrieb darüber in Dichtung und Wahrheit (Teil II, Buch
8): "Was mich an diesem Werk besonders ergötzte, war, daß ich
von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgestellt
hatte, einen vorteilhaftern Begriff erhielt." Was das Judentum betrifft,
so haben wir bereits gesehen, dass seine besondere Vorliebe dem als Ketzer
geltenden jüdischen Philosophen Spinoza galt. Wer aber vom Islam nichts
weiß, wird nicht erkennen können, dass Goethe bei seinem Studium der
orientalischen Literatur sich wiederum mit besonderer Aufmerksamkeit den
ketzerischen Tendenzen innerhalb des Islam zugewandt hat.
Es gibt insbesondere eine auf die Aufklärung vorausweisende Richtung im
Islam, die Mu'tazila, welche zwar in der frühen Blütezeit des Islam
höchste Achtung genoss, ja vom aufgeklärten Khalifen El-Mamun zur
Staatsdoktrin erhoben, dann jedoch zur Ketzerei erklärt wurde, als unter
dessen Nachfolgern die Obskurantisten die Oberhand gewonnen hatten. (Ich halte
es deshalb übrigens für falsch, wenn immer wieder gesagt wird, der Islam habe
keine Aufklärung gekannt und die Muslime müssten sozusagen noch einmal die
Schulbank drücken, um die Aufklärung nachzuholen. Was wäre die
europäische, insbesondere die deutsche Aufklärung ohne den Einfluss
des Islam? Umgekehrt gefragt: gibt es nicht bei uns auch "NeoCons",
die bestrebt sind, die Aufklärung wieder rückgängig zu machen?) Durch
den Artikel Motazelah in Herbelots Bibliothèque Orientale war Goethes
Aufmerksamkeit auf die Mu'tazeliten gelenkt worden. Daraufhin notierte er sich:
”Sunniten = Orthodoxe, Motazales = Ketzer“. In unserem Zusammenhang ist nun
bemerkenswert, daß der Dichter des Divan im zweiten seiner Talismane ein
Gedicht schuf, das mit seiner Lobpreisung Gottes als des einzig Gerechten wie
ein mu'tazelitisches Credo anmutet:
Er der einzige Gerechte,
Will für jedermann das Rechte.
Sei, von seinen hundert Namen,
Dieser hoch gelobet! Amen.
Was steckt denn nun aber für die Orthodoxen an Ketzerischem in diesem Gedicht?
Die Mu’tazila beschäftigte sich (wie später Spinoza) insbesondere mit
der Frage nach den Eigenschaften Gottes. Dabei hob sie besonders zwei
Eigenschaften Gottes hervor. Einmal die Einheit Gottes im Gegensatz zum
Polytheismus, aber auch zur Dreifaltigkeitslehre des Christentums. Goethe lag
diese Lehre des Islam, wie wir gesehen haben, besonders am Herzen, mit der
Begründung (in den "Noten", Kapitel "Mahmud von Gasna"):
"Der Glaube an den einigen Gott wirkt immer geisterhebend, indem er den
Menschen auf die Einheit seines eigenen Innern zurückweist." Die
Einheitslehre ist allerdings Gemeingut aller islamischen Glaubens¬¬richtungen.
Aus dieser Lehre meinte die Mu’tazila jedoch den Gedanken ableiten zu
können, dass Gott gerecht sein müsse. Ein ungerechter Herrscher kann also
nicht gottgewollt sein, der Widerstand gegen ihn ist demnach legitim.
Welche Sprengkraft denn auch noch heute in den angeblich ketzerischen Lehren
der Mu’tazila liegt, zeigt sich am Beispiel des ägyptischen Korangelehrten
und Sprach¬wissen¬schaftlers Professor Nasr Hamid Abu Zeid. Sein angebliches
Verbrechen bestand darin, dass er seine Studenten dazu angehalten hatte, im
Zuge eines Studiums des islamischen Erbes, d.h. der verschiedenen
Strömungen der islamischen Theologie zur Zeit der Hochblüte islamischer
Kultur, sich auch mit der Mu’tazila zu befassen. Wohlgemerkt, sie zu studieren,
nicht etwa ihre Lehren unbesehen zu übernehmen! Dennoch reichte das aus, um ihn
den Hütern der Orthodoxie suspekt zu machen und ihn zu einem Nichtmuslim, d.h.
zu einem Abtrünnigen vom Glauben zu erklären. Damit war er praktisch
vogelfrei, denn als ein Abtrünniger vom Glauben ist er für die Islamisten
sozusagen zum Abschuss freigegeben. Professor Nasr Hamid Abu Zeid musste mit
seiner Frau ins Ausland fliehen, sie leben jetzt in Holland im Exil. Wenn also
Goethe sich mit innerislamischen Auseinandersetzungen aus früherer Zeit befasst
hat, so zeigt sich in unseren Tagen, dass er damit auf Probleme gestoßen
ist, die in der islamischen Welt noch heute aktuell sind.
Aus der Feststellung, dass Goethe im Islam eine Glaubenslehre gesehen hat, die
mit seinen religiösen Auffassungen weitgehend übereinstimmte, folgt für
mich jedoch nicht, dass man sich seinen Überzeugungen unbedingt
anschließen muss, um Freude an seinen poeti¬schen Werken zu haben, in
welchen er diesen Überzeugungen Ausdruck verleiht. Mir geht es um etwas
viel Einfacheres, nämlich darum, deutlich zu machen, dass sich der Inhalt
dieser Werke erst demjenigen wirklich erschließt, der sich ein wenig mit
dem islamischen Kontext vertraut macht, innerhalb dessen sie von Goethe
konzipiert wurden.
Ich möchte das am Beispiel von drei Gedichten eingehender darstellen, an
zweien aus seiner Jugendzeit, d.h. der Periode des Sturm und Drang, und an
einem Gedicht aus seinem lyrischen Alterswerk, dem "West-östlichen
Divan", wobei ich mit letzterem eines der bekanntesten, aber auch
geheimnisvollsten Gedichte Goethes gewählt habe. Malen Sie sich dabei in
Gedanken aus, wie es wäre, wenn Sie zu Gedichten wie dem
"Prometheus" oder dem "Ganymed", die ebenfalls aus Goethes
Sturm- und Drang-Periode stammen, oder zur "Klassischen
Walpurgisnacht" oder der Philemon-und-Baucis-Episode in Goethes anderem
Spätwerk, dem Faust II, um nur ein paar Beispiele willkürlich
herauszugreifen, ebenso wenig über deren antiken Hintergrund wüssten wie über
den islamischen Hintergrund der vorgeführten Beispiele, ganz zu schweigen vom
christlichen Hintergrund des "Oster¬spaziergangs" oder Gretchens
Gebet "Ach neige / Du Schmerzensreiche".
Zum ersten Beispiel, das ich anführen will, brauche ich in der Folge gar nicht
weiter viel zu sagen, wenn ich Ihnen die Quelle bezeichnet habe, die Goethe als
Vorlage diente. Ich muss Ihnen jedoch erklären, warum dieses Gedicht, so
schön es ist, fast keiner kennt, es sei denn, er habe die Arbeiten
Katharina Mommsens zu unserem Thema gelesen. Das Gedicht stammt, wie gesagt,
aus Goethes Sturm-und-Drang-Periode, und zwar, als er plante, eine Tragödie
zu schreiben, in der er das Leben des Propheten Mohammed darstellen wollte.
Allein schon über diesen Plan erfahren Sie aus der einschlägigen
Goethe-Literatur, soweit sie sich nicht gerade an ein Publikum von Fachleuten
richtet, so gut wie nichts, nur von Goethe selbst. Denn in "Dichtung und
Wahrheit" spricht er recht ausführlich darüber. Die von Goethe geplante
Mahomet-Tragödie ist allerdings Fragment geblieben, und so haben die
Herausgeber von Goethes Werken die Entwürfe dazu, darunter eben auch besagtes
Gedicht, in den Band "Fragmente" verbannt, sodass nur der glückliche
Besitzer einer vollständigen Goethe-Ausgabe es dort nachlesen kann. Denn
selbst in den sogenannten Gesamt¬ausgaben von Goethes Gedichten ist es nicht zu
finden. Bei unserem Beispiel handelt es sich um einen Hymnus, den Goethe in
Dichtung und Wahrheit (Teil II, Buch 14) innerhalb der Betrachtung seines
Mahomet-Fragments wie folgt kommentiert hat:
Das Stück fing mit einer Hymne an, welche Mahomet allein unter dem heiteren
Nachthimmel anstimmt. Erst verehrt er die unendlichen Gestirne als eben so
viele Götter; dann steigt der freundliche Stern Gad (unser Jupiter)
hervor, und nun wird diesem, als dem König der Gestirne,
ausschließliche Verehrung gewidmet. Nicht lange, so bewegt sich der Mond
herauf und gewinnt Aug' und Herz des Anbetenden, der sodann, durch die
hervortretende Sonne herrlich erquickt und gestärkt, zu neuem Preise
aufgerufen wird. Aber dieser Wechsel, wie erfreulich er auch sein mag, ist
dennoch beunruhigend, das Gemüt empfindet, daß es sich nochmals
überbieten muß; es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen,
Unbegrenzten, dem alle diese begrenzten herrlichen Wesen ihr Dasein zu
verdanken haben.
Wie viele Generationen von Goethe-Lesern haben wohl Dichtung und Wahrheit und
damit auch diese Stelle gelesen, ohne zu wissen, wovon Goethe hier spricht! Das
Gedicht lautet:
Teilen kann ich euch nicht dieser Seele Gefühl
Fühlen kann ich euch nicht allen ganzes Gefühl
Wer, wer wendet dem Flehen sein Ohr?
Dem bittenden Auge den Blick?
Sieh er blinket herauf Gad der freundliche Stern.
Sei mein Herr du! Mein Gott. Gnädig winkt er mir zu!
Bleib! Bleib! Wendst du dein Auge weg?
Wie? liebt ich ihn, der sich verbirgt?
Sei gesegnet o Mond! Führer du des Gestirns,
Sei mein Herr du, mein Gott! Du beleuchtest den Weg.
Laß! Laß! Nicht in der Finsternis
Mich! irren mit irrendem Volk.
Sonn dir glühenden weiht sich das glühende Herz.
Sei mein Herr du mein Gott! Leit allsehende mich.
Steigst auch du hinab herrliche!
Tief hüllet mich Finsternis ein.
Hebe liebendes Herz dem Erschaffenden dich!
Sei mein Herr du! mein Gott! Du alliebender du!
Der die Sonne den Mond und die Stern
Schuf Erde und Himmel und mich.
Hinsichtlich unseres Themas sind an diesem Gedicht zunächst zwei Aspekte
bemerkenswert. Zunächst einmal die Sympathie, mit der Goethe den Helden
seines geplanten Dramas, den Propheten Mohammed, schon als Knaben bei uns
einführt. Diese Sympathie bewahrt ihm der Autor das ganze Stück hindurch bis an
sein Lebensende. Das wissen wir nicht nur daraus, wie nach Goethes Darstellung
in "Dichtung und Wahrheit" das Stück seinem Plan gemäß
weitergehen sollte, wir wissen es auch aus dem Schlusshymnus zum vierten Akt,
der uns ebenfalls erhalten ist und der uns als nächstes Gedicht
beschäftigen soll. Damit stand Goethe in entschiedenem Gegensatz zu
Voltaire und einer Reihe von anderen Aufklärern, die in ihrer Feindschaft
gegenüber jeder Art von Religion den Propheten Mohammed zusammen mit Moses und
Jesus verdammten als einen der sogenannten "drei Betrüger". Im
"Mahomet-Fragment" geht es Goethe um das Thema der "Vermittlung
durch einen Propheten", in welchem er, wie oben erwähnt, eine jenen
Grundlehren des Islam sieht, mit denen er sich in voller Übereinstimmung
befindet.
Zweitens aber kommt in diesem Gedicht ein weiterer, bisher noch nicht
erwähnter Aspekt des Islam zur Geltung, der neben der Einheitslehre eine
große Anziehungskraft auf Goethe ausgeübt hat: die Naturfrömmigkeit.
Im Koran werden die Menschen immer wieder dazu aufgefordert, in den Naturerscheinungen
Zeichen Gottes zu erkennen. Die Vorstellung vom irdischen Dasein als einem
Jammertal, das erst in einem Leben im Jenseits seine Erfüllung finden
könne, ist zwar nicht als allgemein verbindliche Lehre des Christentums
anzusehen. Sie war aber unter den christlichen Zeitgenossen Goethes so weit
verbreitet und vorherr¬schend, dass die im Koran zum Ausdruck kommende
Naturfrömmigkeit auf Goethe wie ein Element der Befreiung wirkte. Goethe
erkannte darin die Gedanken seines geliebten Spinoza wieder.
Ein dritter Aspekt ist am vorstehenden Gedicht als bemerkenswert zu
erwähnen, nämlich dass es unmittelbar auf den Koran zurückgeht.
Machen Sie die Probe bei den Büchern, die Sie über Goethe besitzen: Wo
hätten Sie je gelesen, dass Goethe sich mehrfach, und zwar nicht nur in
seiner Spätzeit, im "West-östlichen Divan", sondern schon
in manchen Dichtungen seiner Jugend, vom Koran hat inspirieren lassen?
Allerdings hat Goethe sich hier gegenüber seiner Vorlage eine kleine Abweichung
erlaubt, denn in der betreffenden Stelle des Koran ist es nicht der Prophet
Mohammed, der durch die Naturerscheinungen in mehreren Stufen zur
Gottes¬erkenntnis geführt wird, es ist Abraham, der Urvater aller drei
monotheistischen Religionen und laut Koran der erste Muslim. Hier also die
betreffende Stelle aus dem Koran (VI. Sure, Das Vieh, Vers 75 ff.). Goethe,
unzufrieden mit der ihm damals vorliegenden deutschen Übersetzung des
Frankfurter Professors Megerlin, hat sich diese Verse eigens aus der
lateinischen Version des Ludovico Maracci, Beichtvater von Papst Innozenz XI.,
neu übersetzt:
V. 75. Abraham sprach zu seinem Vater Azar: Ehrst du Götzen für
Götter? Wahrhaftig ich erkenne deinen, und deines Volks offenbaren Irrtum.
Da zeigten wir Abraham des Himmels und der Erde Reich dass er im wahren Glauben
bestätiget würde. Und als die Nacht über ihm finster ward, sah er das
Gestirn und sprach: Das ist mein Herrscher, da es aber niederging rief er:
untergehende lieb ich nicht. Dann sah er den Mond aufgehen, sprach: Das ist
mein Herrscher! Da er aber nieder ging sagt er: Wenn mich mein Herr nicht
leitet geh ich in der Irre mit diesem Volk; wie aber die Sonne heraufkam sprach
er: Das ist mein Herrscher. Er ist größer. Aber da sie auch
unterging, sprach er: O mein Volk nun bin ich frei von deinen Irrtümern! Ich habe
mein Angesicht gewendet zu dem der Himmel und Erde erschaffen hat.
In fast allen Goethe-Ausgaben bzw. speziell den Ausgaben der Goetheschen
Gedichte ist immerhin ein ebenfalls aus dem geplanten Mahomet-Drama stammender
Hymnus zu finden, welcher den Titel trägt: "Mahomets-Gesang".
Das Gedicht war ursprünglich entworfen als ein Preislied auf den Propheten,
welches Fatima, die Tochter des Propheten, und Ali, sein Vetter und
Schwiegersohn, bei seinem Tode im Wechselgesang zur Verherr¬lichung seines
segensreichen Wirkens anstimmen. Die genaue Bedeutung dieses Gedichts
lässt sich aber für einen nicht-muslimischen Leser nicht auf den ersten
Blick erfassen und ist deshalb von den meisten verkannt, das heißt eben:
nicht als Ausdruck von Goethes enger Verbundenheit mit dem Islam erkannt
worden. Hegel hingegen, einer der wenigen von Goethes Zeitgenossen, der dafür
ein tiefes Verständnis aufbrachte und den Autor des "Divan" in
seiner "Ästhetik" sogar unter die morgenländischen Poeten
einreihte, vermag uns über den allgemeinen Sinn des Gedichts aufzuklären,
indem er den Unterschied zwischen einem Gleichnis und einem dichte¬ri¬schen
Bild erläutert, dann darauf hinweist, dass es sich bei vorliegendem Hymnus
nicht um ein Gleichnis, sondern um ein Bild handelt, und schließt:
Nur die Aufschrift zeigt es an, daß [...] in diesem weiten,
glänzenden Bilde eines mächtigen Stroms Mahomets kühnes Auftreten,
die rasche Verbreitung seiner Lehre, die beabsichtigte Aufnahme aller
Völker in den einen Glauben treffend dargestellt sei.
Es gibt aber an diesem Gedicht noch besondere Geheimnisse zu entdecken, und
deshalb sei hier der volle Text hergesetzt:
Mahomets-Gesang
Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.
Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach,
Und mit frühem Führertritt
Reißt er seine Bruderquellen
Mit sich fort.
Drunten werden in dem Tal
Unter seinem Fußtritt Blumen,
Und die Wiese
Lebt von seinem Hauch.
Doch ihn hält kein Schattental,
Keine Blumen,
Die ihm seine Knie umschlingen,
Ihm mit Liebesaugen schmeicheln:
Nach der Ebne dringt sein Lauf
Schlangenwandelnd.
Bäche schmiegen
Sich gesellig an. Nun tritt er
In die Ebne silberprangend,
Und die Ebne prangt mit ihm,
Und die Flüsse von der Ebne
Und die Bäche von den Bergen
Jauchzen ihm und rufen: »Bruder!
Bruder, nimm die Brüder mit,
Mit zu deinem alten Vater,
Zu dem ew'gen Ozean,
Der mit ausgespannten Armen
Unser wartet,
Die sich, ach! vergebens öffnen,
Seine Sehnenden zu fassen;
Denn uns frißt in öder Wüste
Gier'ger Sand; die Sonne droben
Saugt an unserm Blut; ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche! Bruder,
Nimm die Brüder von der Ebne,
Nimm die Brüder von den Bergen
Mit, zu deinem Vater mit!«
»Kommt ihr alle!«
Und nun schwillt er
Herrlicher; ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor!
Und im rollenden Triumphe
Gibt er Ländern Namen, Städte
Werden unter seinem Fuß.
Unaufhaltsam rauscht er weiter,
Läßt der Türme Flammengipfel,
Marmorhäuser, eine Schöpfung
Seiner Fülle, hinter sich.
Zedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern: sausend
Wehen über seinem Haupte
Tausend Flaggen durch die Lüfte,
Zeugen seiner Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder,
Seine Schätze, seine Kinder
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz.
Die große Orientalistin Annemarie Schimmel hat 1999 in einem Vortrag im
islamischen Zentrum in Hamburg darauf hingewiesen, dass das Bild des Propheten
als eines Stromes bereits im zehnten Jahrhundert von dem schiitischen Theologen
Kulaini verwendet worden ist, was Goethe nicht wissen konnte. Sie schreibt es
Goethes Kraft der Intuition zu, wenn er in diesem Bild so genau das trifft, was
ein Muslim fühlt und denkt. Der bedeutende islamische Dichterphilosoph Muhammad
Iqbal, der als geistiger Vater des modernen Pakistan gilt, hat anfangs des 20.
Jahrhunderts in seiner Gedichtsammlung "Botschaft des Ostens" in der
Tat begeistert auf dieses Gedicht geantwortet und hat es in seiner
Dichtersprache (das war für ihn das Persische) neu gefasst unter dem Titel
"Der Strom". Aber ganz ohne Vorbild war Goethe hier nicht. Frühere
Forscher, vor allem Konrad Burdach in seiner aufschlussreichen Studie über "Faust
und Moses" (Berlin 1912), haben auf das Buch der französischen
Quietistin Madame Guyon "Geistliche Ströme" als unmittelbare
Vorlage für Goethes Gedicht hingewiesen. Goethe hat in der Tat das Bild des
Stromes und ein paar weitere Metaphern aus dem Traktat der Madame Guyon
übernommen, hat mit seinem Hymnus aber doch etwas völlig eigenes
geschaffen, etwas, das seiner innersten Überzeugung entsprach. Aus der bei
Madame Guyon hierarchisch gegliederten Mehrzahl der Ströme macht er einen
einzigen Strom als primus inter pares, und ihrer natur- und weltverneinenden
Mystik setzt er seine natur- und lebensfreudige, weltbejahende Haltung
entgegen. Merkwürdig ist, dass dem Forscher, welcher in seiner Schrift
"Goethes Mahomet und Prometheus" (Halle 1914) das bereits festgestellt
hat, Franz Saran, dadurch die Mystik des geschilderten Vorgangs als "nicht
recht nachvollziehbar" erscheint, so, als könne es keine
weltbejahende Mystik geben. Noch erstaun¬licher ist allerdings, dass er unter
den Schriften, von denen er vermutet, dass sie auf Goethe bei der Abfassung von
"Mahomets Gesang" eingewirkt haben, neben dem Traktat der Madame
Guyon zwar noch das Neue Testament, Arnolds "Ketzergeschichte" und
Klopstocks "Messias" nennt, nicht aber auf den Gedanken kommt, dass
Goethe sich auch auf den Koran bezogen haben könnte, obwohl er doch das
Gedicht dem Übermittler des Koran, dem Propheten Mohammed, gewidmet hat
und Saran selbst ihn im Titel seiner Büchleins nennt!
Wenn man aber auf den Koran als tatsächliche Inspirationsquelle Goethes
zurückgeht, dann muss man Annemarie Schimmel Recht geben und Goethes
unglaubliche Kraft der Intuition bewundern. Denn Goethe hat den Koran in den
verschiedensten Übersetzungen studiert, in Lateinisch, Deutsch,
Französisch, Englisch. Aber er konnte kein Arabisch und hat sich erst
spät bemüht, es noch zu lernen. Und doch gibt es Stellen in "Mahomets
Gesang", die, wenn man sie ins Arabische sozusagen rückübersetzt, sich
lesen, als hätte schon der junge Goethe über eine profunde Kenntnis des
Arabischen und der islamischen Mystik verfügt. Denn wie die dem gesamten Hymnus
zugrunde¬liegende Metapher vom Strom als dem Propheten und Gott als dem Ozean
weisen weitere Metaphern darauf hin, dass Goethe, falls ihm nicht durch
irgendwelche unterirdischen literarischen Kanäle - die europäische
Mystik des Mittelalters fußte ja auf derjenigen der muslimischen Sufis! -
eine versteckte islamische Tradition zugänglich gewesen ist, er sich mit
genialer Einfühl¬samkeit in das religiöse Denken der Muslime hineinversetzt
hat.
Gegen Schluss des Gedichts heißt es vom Strom, d.h. vom Propheten:
"Doch ihn halten keine Städte, / Nicht der Türme Flammengipfel
..." Was ist aber mit »der Türme Flammengipfel« gemeint? In der
Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlages wird dies von Karl Eibl gedeutet
als Strahlen der untergehenden Sonne hinter den Türmen einer Stadt. Ein
schönes Bild. Als solches erscheint es aber in diesem Zusammenhang nicht
recht begründet, also eher als bloße Dekoration. Denn warum sollte sich
der Strom ausgerechnet von den Strahlen der unter¬gehenden Sonne aufhalten
lassen? Ein in der islamischen Mystik bewanderter sudanesi¬scher Freund wies
mich jedoch darauf hin, dass hier vielmehr von Leuchttürmen die Rede sein
müsse. Denn im Islam stehen Leuchttürme als Metapher für die Propheten
(arabisch: minarât el-hudâ), also für die - im übertragenen Sinn - »Wegweiser
der rechten Leitung«. Und in der Tat, der Prophet Mohammed gilt den Muslimen
als "Siegel der Propheten", also als letzter in deren Reihe, und
lässt somit seine Vorgänger, von denen die Menschheit bis dahin auf
den rechten Weg geleitet wurde, hinter sich.
Eine ähnlich geheimnis¬volle Beziehung zur islamischen Mystik, ja zum
Koran selbst, lässt sich auch in den Versen erkennen: »Bruder! ... nimm
die Brüder mit! / Mit zu deinem alten Vater, / Zu dem ewgen Ozean / Der, mit
weitverbreit'ten Armen / Unsrer wartet, / Die sich, ach! vergebens öffnen,
/ Seine sehnenden zu fassen«. Denn das arabische Äquivalent für Ozean,
al-Muhît, hat zugleich die Bedeutung von der Allum¬fassende. Zwar gibt es
hinsichtlich der Frage, welche Attribute entsprechend einem Ausspruch des
Propheten zum Kanon der hundert schönen Beinamen Gottes zu rechnen sind,
Unterschiede in der Überlieferung, und al-Muhît ist nicht in allen zu
finden, doch im Koran wird Gott mehrmals als al-Muhît, d.h. als der
Allumfassende benannt. So etwa im 126. Vers der vierten Sure, (in dem der
Begriff allerdings nicht in der substantivischen Form - der Allumfassende -,
sondern in der partizipialen Form – allumfassend – erscheint): "Und Gottes
ist, was ist im Himmel und auf Erden. Und Gott ist alles Ding umfassend."
(Übersetzung von Friedrich Rückert)
Und wenn es in dem Hymnus heißt: "mit zu deinem alten Vater",
so könnte ein flüchtiger Leser auf den Gedanken kommen, es handle sich bei
dem Adjektiv 'alt' um ein bloßes Füllwort, das Goethe eingefügt hat, um
den rhythmischen Fluss des Verses aufrecht zu erhalten. Nun stimmen zwar auch
beim arabischen Wort für 'der Alte', 'Al-Qadîm', wiederum die
Überlieferungen nicht darin überein, ob es zum Kanon der hundert
schönen Beinamen Gottes zu rechnen sei oder nicht. In der Tradition der
islamischen Mystik spielt der Begriff 'Al-Qadîm' jedoch allemal eine
große Rolle: Er bedeutet den zeitlos oder anfangslos Ewigen, im
Gegen¬satz zum Erneuerten oder Neuen, d.h. im Gegensatz zu dem, was geworden
ist, nachdem es vorher nicht war. 'Al-Qadîm', 'der Alte' hat keinen Anfang oder
ist vor dem Anfang. Er existiert außerhalb der geradlinigen Zeit.
xxx
Meine These, dass die Goethe-Forscher und Biographen bisher einen wichtigen
Aspekt seiner Werke, nämlich den islamischen, im Dunkeln gelassen haben,
bis dieser durch Katharina Mommsen mit ihrer Pionierarbeit, "Goethe und
die arabische Welt" bzw. mit "Goethe und der Islam" zum ersten
Mal umfassend gewürdigt wurde, möchte ich an einem weiteren Beispiel
illustrieren. Wenn, wie bekannt, der 3. Akt von Goethes Faust II als
Tragödie der Helena bekannt ist, dann weiß jeder nur halbwegs
Gebildete, wer Helena war. Wer jedoch das neben dem Faust II bedeutendste Alterswerk
Goethes, den "West-östlichen Divan" kennt, dem ist zwar
zweifelsohne geläufig, dass das umfangreichste Buch in dieser
Gedicht¬sammlung und die darin gepriesene Geliebte den Namen Suleika
trägt. Aber Hand aufs Herz: Wer kann auf Anhieb sagen, woher dieser Name
stammt und weshalb Goethe diesen für sie gewählt hat? Und mit welchem
Jussuph hat das etwas zu tun? – wenn es in dem folgenden Gedicht heißt:
Daß Suleika von Jussuph entzückt war,
Ist keine Kunst;
Er war jung, Jugend hat Gunst,
Er war schön, sie sagen: zum Entzücken,
Schön war sie, konnten einander beglücken.
Aber daß du, die so lange mir erharrt war,
Feurige Jugendblicke mir schickst,
Jetzt mich liebst, mich später beglückst,
Das sollen meine Lieder preisen:
Sollst mir ewig Suleika heißen.
Nun, zunächst einmal handelt es sich bei diesem Jussuph um niemand anderen
als um den Joseph, den wir aus der Josephs-Geschichte der Bibel kennen, und die
war Goethe von Kindheit an vertraut. Ja, er hat, wie wir aus "Dichtung und
Wahrheit" wissen, als Knabe sogar einen Josephs-Roman verfasst, der uns
jedoch nicht überliefert ist. Als während des siebenjährigen Krieges
Frankfurt von den Franzosen besetzt war, hat der im Goetheschen Elternhaus
einquartierte, kunstliebende Graf Thoranc sich von dem damals
zwölfjährigen Goethe dazu anregen lassen, beim Frankfurter Maler
Trautmann eine Serie von neun Bildern zu bestellen, in welcher die Geschichte
von Joseph und seinen Brüdern und Joseph in Ägypten dargestellt ist. Bei
seiner ersten Lektüre des Koran muss Goethe überrascht gewesen sein zu sehen,
dass darin eine ganze Sure, die zwölfte, der Josephs-Geschichte gewidmet
ist, und Gott am Anfang derselben den Propheten mit den Worten anspricht:
"Erzählen wollen Wir [Gott] dir [Mohammed] die schönste der
Geschichten durch die Offenbarung dieses Korans; siehe, zuvor warst du achtlos
auf sie." In dieser Sure stößt man auf eine Szene, die wir von
der Bibel her nicht kennen, durch welche die blendende Schönheit Josephs
und deren lebhafte Wirkung auf die Frauen für uns augenfällig gemacht
wird. Von daher hat die Schön¬heit Josephs für die Muslime einen
sprichwörtlichen Charakter angenommen, d.h. wenn man etwa im Arabischen
die Schönheit eines menschlichen Wesens bezeichnen will, sagt man
"djamîl ka Yussuf", "schön wie Joseph".
Aber wer war nun Suleika? Eine für wohl die meisten von uns überraschende
Antwort auf diese Frage finden wir in dem Kommentar zu dem Verspaar 11 f. der
Gasele Elif VIII aus dem Diwan des Hafis, von dessen Übersetzer Josef v.
Hammer. Die beiden Verszeilen des Gedichts von Hafis lauten:
Jusufs berauschende Schönheit erklärt den Zauber der Liebe,
Welcher zerrissen den Flor bei Sulicha ...
Der Übersetzer Josef v. Hammer fügte die Erklärung hinzu:
Sulicha oder Suleicha, Potifars Gemahlin in den orientalischen Romanen, die in
des ägyptischen Josephs Geschichte nichts als die unwiderstehbare Macht
der Schönheit des Mannes aufs Herz des Weibes darzustellen suchen.
Aus der biblischen Tradition von 1. Mose 39 erfahren wir nur etwas über eine
"Potiphars Weib" benannte Frau, deren Namen dort verschwiegen, die
uns aber als ein lüsternes Wesen von fragwürdigem Charakter geschildert wird.
Dagegen führt die islamische Tradition sie aus dieser Anonymität heraus,
gibt ihr den Namen Suleika und erhebt ihre Liebesbeziehung zu Joseph zum Symbol
der entsagenden Liebe.
Unter Goethes Lektüre-Notizen vom Frühjahr 1815 finden sich mehrere
Aufzeichnungen, die sein Interesse für die Geschichte Suleikas bekunden. So
notierte er aus dem in den Fundgruben des Orients in Fortsetzung erschienenen
Roman des persischen Dichers Dschami - Jussuf und Suleika - die folgenden
Motive, in denen Suleika im reinen Licht der Unschuld erscheint:
Suleicha träumt und sieht einen verklärten Jussuf, verliebt sich,
klagt für sich, schweigt. Verkommt. Amme dringt. Sie gesteht. Amme vertrauts
dem Vater... Suleicha sieht den Jussuf zum zweiten mal im Traum. Wird
wahnsinnig auf ein Jahr.
In der Bibliothèque orientale hatte er über Jussuph und Suleika lesen
können:
Die Musulmanen .... bedienen sich oft ihrer Namen und ihres Vorbilds, um das
Herz der Menschen zu einer höheren als der gemeinen Liebe zu erheben, da
sie behaupten, daß diese beiden Liebenden nichts anderes seien als das
Sinnbild der treuen Seele, die sich durch die Liebe bis zu Gott erhebt.
Goethes orientalistischer Berater in Berlin, Heinrich Friedrich von Diez, hatte
bereits 1811 im ersten Band seiner ”Denkwürdigkeiten“ (S. 30) über den
persischen Dichter Dschami (1414-1492) geschrieben:
Im Koran findet sich ein eigenes Kapitel, das zwölfte an der Zahl, unterm
Namen Jussuf oder Joseph, wo von der Liebe der Zuleicha, Tochter des Pharao und
Gemahlin des Potiphars, gegen Joseph, Sohn Jacobs, geredet wird. Da diese Liebe
aus dem Anblick der großen Schönheit Josephs entsprungen sein soll
und ohne große sinnliche Befriedigung geblieben: so wird sie von den
Mohammedanern als ein Muster keuscher, obgleich brennender Liebe vorgestellt,
welche zur Liebe gegen Gott geführt haben soll, weil man hinzudichtet,
daß Zuleicha sich am Ende zum wahren Glauben bekehrt habe. Dies hat zum
Roman Gelegenheit gegeben, welcher unterm Namen >Jussuf und Zuleicha< von
Dschami im Persischen geschrieben worden. Die Liebe wird darin als die Neigung
zu allem Schönen, Guten und Edeln vorgestellt und soll sich durch Betrachtung
der sinnlichen Schönheit am Menschen wie an andern belebten und unbelebten
Wesen zur Liebe und Anbetung des Schöpfers aller Schönheit erheben,
so daß man die Liebe gegen die Schönheit der Geschöpfe als das
Mittel zur Liebe gegen die Schönheit des Schöpfers ansieht.
Zum Schluss möchte ich mich einem der bekanntesten, wenn nicht gar
beliebtesten Gedichte Goethes zuwenden, und einigen weiteren Gedichten aus dem
"West-östlichen Divan", die damit im Zusammenhang stehen. Wer
kennt aus dem Divan nicht das Gedicht mit dem Titel "Selige
Sehnsucht" im "Buch des Sängers"? Wer aber weiß, dass
dieses Gedicht einen Leitgedanken der islamischen Mystik, des Sufismus, zum
höchsten Ausdruck bringt? Wer hat nicht schon soundso viele Male die geheimnisvollen
Schlussverse dieses Gedichts zitieren hören: "Und solang du das nicht
hast..." Wer weiß jedoch, dass der Gedanke des "Stirb und
werde!", ausgehend von einem dem Propheten Mohammed zugeschriebenen
Ausspruch: "Sterbt, bevor ihr sterbt!", die ganze islamische Mystik
durchzieht wir ein roter Faden? Und wer von den vielen Lesern dieses Gedichts,
die inzwischen, seit dessen Entstehung, wohl in die Millionen gehen, hat
verstanden, dass darin, obwohl der Name des Allerhöchsten nicht ein
einziges Mal genannt wird, von der Sehnsucht nach Gott die Rede ist?
Nur wer es mit den Augen eines im Koran bewanderten Muslims liest, wird dies
erkennen können: Die Bewegung des ganzen Gedichtes ist ausgerichtet auf
das Licht. Dies aber ist einer der schönen Beinamen Gottes, welcher in der
Litanei des muslimischen Rosenkranzes die 93. Stelle einnimmt, und zwar
aufgrund von Vers 36, dem sogenannten Lichtvers, aus der 24. Sure, die
ihrerseits um dieses Verses willen den Titel En-Nûr, Das Licht, trägt.
Goethe kannte ihn aus der Hammerschen Übersetzung (in den Fundgruben des
Orients, Bd.3, S.253), er lautet dort:
Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist wie ein Fenster an
der Wand, worinnen eine Lampe brennt, mit Glas bedeckt. Daß Gott
glänzt wie ein Stern; die Lampe wird entzündet vom Oele eines
gebenedei¬ten Baumes. Kein östliches, kein westliches Oel; es leuchtet
dem, wem er will. Gott giebt den Menschen Gleichnisse. Er ist Allwissend.
Aus der Verehrung für Gott als dem Licht hat sich ein zentrales Motiv des
Sufismus entwickelt, nämlich die Vorstellung von der mystischen
Vereinigung mit Gott und geistigen Wiedergeburt, gleichnishaft dargestellt am
Schmetterling, welcher der Flamme zustrebt und in ihr verbrennt. Annemarie
Schimmel hat mehrfach auf einige solcher Beispiele hingewiesen. Als erster hat,
wie sie erklärt, der in Bagdad im Jahre 922 wegen Ketzerei auf die
grausamste Weise hingerichtete Mystiker al-Halladj in seinem Kitâb at-tawasin
dieses Gleichnis verwendet, in (von ihr übersetzten) Passagen wunderbarer
arabischer Reimprosa, die von philosophischen Erörterun¬gen unter¬brochen
werden:
Der Falter fliegt um das Kerzenlicht, bis der Morgen anbricht,
und kehrt zu seinesgleichen zurück,
Berichtet ihnen von dem Zustand des Glücks mit lieblichem Wort,
Dann vereint er sich mit der anziehenden Schönheit
Begierig, zur Vollkommenheit zu gelangen.
Darauf folgt, laut Annemarie Schimmel, die mystische Inter¬pretation: Das Licht
der Kerze ist das Wissen von der Wirklichkeit, ihre Wärme die Wirklichkeit
der Wirklichkeit, das Gelangen zu ihr die Wahrheit der Wirklichkeit. Dann aber
kehrt al-Halladj zum Gleichnis des Schmetter¬lings zurück:
Er begnügt sich nicht mit ihrem Licht,
Mit ihrer Wärme nicht, und wirft sich ganz hinein,
[...]
Wer zur Schau gelangt, bedarf nicht mehr der Kunde,
Wer zum Geschauten gelangt, bedarf nicht mehr der Schau.
Am Schluss ihres Buches Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam
(München 1995, S. 313) zitiert Annemarie Schimmel einen Text des 1273 in Konya
gestorbenen Mystikers Djelâladdîn Rumi aus seinem Werk Fîhi mâ fîhi (deutsch
von A. Schimmel: Von allem und vom Einen, Köln 1988), in welchem das
Gleichnis vom lichtbegierigen Falter des Halladj wieder auftaucht:
[...] Der wahre Mensch [ist] einer, der niemals von Bemühung frei ist, der
ruhelos und unaufhörlich um das Licht der Majestät und Schönheit
Gottes kreist. Und Gott ist es, der den Menschen verbrennt und ihn zunichte
werden lässt - und kein Verstand kann Ihn erfassen.
Goethes mystische Denkweise unterscheidet sich allerdings in einem Punkt
wesentlich von derjenigen, die sich in obigen Texten spiegelt. In den Noten und
Abhandlungen erläutert er, wie schon oben erwähnt, die Rubriken, nach
welchen man die im Buch der Parabeln des Divan in dichterische Form gefassten
ethischen Grundsätze des Orients einteilen könne. Als vierte Rubrik
benennt er den "eigentlichen Islam, die unbedingte Ergebung in den Willen
Gottes, die Überzeugung, daß niemand seinem einmal bestimmten Lose
ausweichen könne", und er spricht von einer fünften, "...welche
man die mystische nennen müßte: sie treibt den Menschen aus dem
vorhergehenden Zustand, der noch immer ängstlich und drückend bleibt, zur
Vereinigung mit Gott schon in diesem Leben und zur vorläufigen Entsagung
derjenigen Güter, deren allenfallsiger Verlust uns schmerzen könnte."
Für den alten Goethe ist die Entsagung ein zentrales Motiv seines Denkens und
seiner Dichtung. Es ging ihm dabei jedoch nicht um Askese im Sinne einer
diesseits¬feindlichen Abtötung des Fleisches. Eine solche wäre seiner
Naturfrömmigkeit zuwider gelaufen. Er sah Entsagung, im Sinne von
Selbst¬beschränkung und Ergebung in das von Gott bestimmte Schicksal, als
notwendigen Teil des Strebens nach einem erfüllten Dasein schon in diesem
Leben. Damit entfernt er sich keineswegs grundsätzlich aus dem Umkreis islamischer
Mystik: Im Koran selbst, wenn darin auch wiederholt von einem Jenseits die Rede
ist, das mit Höllenstrafen für die Ungläubigen einerseits und
Belohnungen für die Gläubigen andererseits aufwartet, werden die Menschen
doch immer wieder dazu angehalten, bereits im Diesseits, das heißt in der
Natur, die Zeichen Gottes zu erkennen und sich daran zu freuen und ihren Nutzen
daraus zu ziehen. Auch die kleinste Naturerscheinung ist nicht zu gering, als
dass man darin nicht ein Gleichnis für das geheimnisvolle Wirken Gottes sehen
könnte. Schon der junge Goethe hatte besonderen Gefallen gefunden an jener
Koranstelle, dem Vers 26 der 2. Sure, in welcher von einer Mücke die Rede ist,
und die (in der Übersetzung von J. v. Hammers in den Fund¬gruben des
Orients) folgendermaßen lautet:
Es scheut sich nicht der Herr ein Gleichnis euch zu geben, von einer Mücke oder
von dem was darüber ist. Die da glauben wissen, daß es Wahrheit von ihrem
Herrn ist; die es aber nicht glauben sagen: Was will der Herr mit diesem Gleichnis.
Der alte Goethe dichtete dann folgenden Vierzeiler, der in den
Nachlassgedichten zum Divan zu finden ist:
Sollt ich nicht ein Gleichnis brauchen,
Wie es mir beliebt?
Da uns Gott des Lebens Gleichnis
In der Mücke gibt.
Das Beispiel aus dem Koran von der Mücke als einem Gleichnis des Lebens führte
Goethe zur Allegorie von der geheimnisvoll vom Licht angezogenen Mücke, die
darin den Flam¬men¬tod findet. Goethe las in der Zeit, als er an seinem Divan
arbeitete, eine Erzählung aus Saadis Baumgarten, worin in volkstümlicher
Form jenes Motiv aus der sufischen My¬stik wieder¬gegeben wird, welches wir
oben kennengelernt haben: die dem Licht zustre¬bende und in ihm verbrennende
Mücke als Sinnbild des Heiligen, der aus Liebe zu Gott, gleichwie in dem Licht
einer Kerze, den Leib in Askese opfert, um seine Seele zu retten; und Goethe
hielt in seinen Lektüre-Notizen fest: "Die verliebte Mücke".
Wenn aber in der Mücke eine Manifestation Gottes zu sehen ist, warum dann nicht
auch in der Geliebten? Schon der 26jährige Goethe hatte diese
Gedankenverbindung hergestellt in einem Brief vom 23. Februar 1776 an Charlotte
von Stein: "Ich habe nun wieder auf der ganzen Redoute nur deine Augen
gesehen – und da ist mir die Mücke ums Licht eingefallen." Nachdem er dann
später, im Mai 1814, die Werke des Dichters und Sufi Hafis in der
Übersetzung Josef v. Hammers kennengelernt hatte, konnte sich Goethe für
seine welt¬bejahende Gottesliebe auf ihn als einen muslimischen Kronzeugen
berufen. Denn Hafis hatte in Gasele Nun XV 7 der Allegorie von der Mücke eben
die Wendung gegeben, in der Goethe seine eigene Auffassung von Mystik aufs
Erfreulichste bestätigt fand:
Wer die Sonne verehrt, hat keine Kunde vom Liebchen,
Schmähst du den Herrn, so schau ihr in die Augen.
Der Übersetzer J. v. Hammer verdeutlichte den Sinn dieser Verse in einer
Fußnote: "Dieje¬nigen, welche die Sonne anbeten, kennen meine
Geliebte nicht, sonst wür¬den sie sich von der Sonne zu ihr wenden; und wer an
Gott nicht glaubt, schaue ihr in die Augen."
In Anlehnung hieran griff Goethe den Anfang seines oben angeführten Vierzeilers
wieder auf, pries aber nunmehr im dritten und vierten Vers statt der Mücke die
Augen der Geliebten:
Sollt' ich nicht ein Gleichnis brauchen
Wie es mir beliebt?
Da mir Gott in Liebchens Augen
Sich im Gleichnis gibt.
Im Schlussgedicht des Buchs Suleika führt der Divan-Dichter dieses Gleichnis
zur höchsten Steigerung, indem er seine Geliebte mit Eigenschaften
bedenkt, die an die hundert Namen Allahs im muslimischen Rosenkranz anklingen.
"Muslimischer Rosenkranz?" mag da einer fragen. "Ist der
Rosenkranz nicht ein ureigen katholisches Utensil?" Aber vergessen wir
nicht: der Rosenkranz kommt ursprünglich aus dem Orient und ist erst durch die
Kreuzfahrer nach Europa gebracht worden. Und sicher hat jeder von uns schon
einmal einen Rosenkranz in der Hand eines Muslims gesehen, vermutlich
allerdings ohne zu wissen, was er für diesen bedeutet: Es geht um die Anrufung
Gottes mit seinen schönen Namen. Goethe hatte darüber in den Fundgruben
des Orients in einem Aufsatz J. v. Hammers gelesen (Band 4, S.160 ff.), dass
nach einer islamischen Tradition Gott Namen trägt, welche "die
schönen genannt, den Hauptbestandteil aller Beschwörungen,
Zauberringe und Talismane" bilden. Neunundneunzig dieser Namen,
heißt es, sind im Koran offenbart worden, der einhundertste bleibt
verborgen. So bedeuten nach Hammer "die hundert Korallen des
mohamme¬danischen Rosenkranzes neun und neunzig Eigenschaften Gottes samt
seinem arabischen Namen Allah". Die Tradition geht zurück auf den Vers 180
der siebten Sure des Koran, "Doch Gottes sind die schönsten Namen /
Ruft ihn damit, und lasset jene, / Die da missbrauchen seinen Namen; / Gelohnt
wird ihnen werden, was sie taten." (Rückert), und auf die Verse 22 bis 24
der neunundfünfzigsten Sure des Koran, welche in der Übersetzung Hammers,
die Goethe vorlag, folgendermaßen lauten:
22. Er ist der Herr. Es ist kein Gott als er. Er weiß das Offenbare wie
das Verborgene. Er ist Allbarmherzig, und Allgnädig.
23. Er ist Gott der Herr. Es ist kein Gott als er, der Herrscher, der Heilige,
der Heilbringende, der Gläubige, der Gute, der Höchste, der
Dränger, der Gewaltige. Lob sei Gott über alle die, so sie ihm zur Seite
stellen.
24. Er ist Gott der Schöpfer, der Hervorbringer, der Bildner. Er hat schöne
Namen. Ihn lobet was im Himmel und auf Erden. Er ist der Höchste,
Weiseste.
Die "kanonische Litanei" des islamischen Rosenkranzes beginnt mit:
"der Allmilde", "der Allerbarmende", "der
Allherrscher", "der Allheilige", "der Allfehlerfreie",
"der Allrettende", doch gehen der Anrufung dieser Namen auch
furchterregende Attribute voraus wie: "der Allzwingende", "der
Allnehmende", "der Allerniedernde", "der
Allherabsetzende" usw. Die Vorsilbe "All" ist hierbei allerdings
deutsche Zutat. Man fügt diese gewöhnlich im Deutschen hinzu, um die
Beinamen Gottes als Attribute des "All"mächtigen zu kennzeichnen
und sie von gewöhnlichen, den irdischen Dingen beigelegten
Eigenschaftswörtern zu unterscheiden. Im Arabischen mit seiner lakonischen
Ausdrucksweise bedürfen die göttlichen Attribute einer solchen
Kennzeichnung nicht.
Nur wenn man das Mysterium der hundert Namen Allahs im Islam kennt, versteht
man recht eigentlich, mit welcher Kühnheit Goethe dieses Thema in dem
Preisgedicht für die Geliebte behandelt, welches den krönenden Abschluss
des Buchs Suleika bil¬det:
In tausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärtige, gleich erkenn ich dich.
An der Zypresse reinstem, jungen Streben,
Allschöngewachsne, gleich erkenn ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.
Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfaltge, dort erkenn ich dich.
An des geblümten Schleiers Wiesenteppich
Allbuntbesternte, schön erkenn ich dich;
Und greift umher ein tausendarmger Eppich
O! Allumklammernde, da kenn ich dich.
Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann athm ich dich.
Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
Du Allbelehrende, kenn ich durch dich;.
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,
Mit jedem klingt ein Name nach für dich.
In seinem Gedicht Selige Sehnsucht geht Goethe jedoch in der Kühnheit des
Gleichnisses, das er darin aufstellt, noch einen Schritt weiter. Die
unmittelbare Vorlage für dieses Gedicht findet sich in J. v. Hammers
Übersetzung des Hafis, 2, 90 f.: Buch Sad I. Sie lautet:
Wie die Kerze brennt die Seele,
Hell an Liebesflammen
Und mit reinem Sinne hab' ich
Meinen Leib geopfert.
Bis du nicht wie Schmetter¬linge
Aus Begier verbrennest,
Kannst du nimmer Rettung finden
Von dem Gram der Liebe.
Du hast in des Flatterhaften
Seele Gluth geworfen,
Ob sie gleich längst aus Begierde
Dich zu schauen tanzte.
Sieh' der Chymiker der Liebe
Wird den Staub des Körpers,
Wenn er noch so bleiern wäre,
Doch in Gold verwandeln.
O Hafis! kennt wohl der Pöbel
Großer Perlen Zahl¬werth?
Gieb die köstlichen Juwelen
Nur den Eingeweihten.
Dass Hafis der Autor dieses Gedichts gewesen sei, wird zwar bestritten.
Letztlich ist diese Frage indes ohne Belang. Goethe jedenfalls hielt es für
eines des Hafis, und entscheidend ist für uns, was er aus seiner Vorlage
geschaffen hat:
Selige Sehnsucht.
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Wenn Goethes Gedicht sich nur an die "Weisen" wendet, "weil die
Menge gleich verhöhnet", so ist dieser Gedanke, wie wir gesehen
haben, in der Vorlage bereits in ähnlicher Form ausgesprochen. Was aber
auf Puritaner aller Zeiten bei diesem Gedicht besonders anstößig
wirken muss, ist die kühne Art, in der Goethe darin den Liebesakt zum Thema
macht. Hier sind es nicht mehr nur die schönen Augen der Angebeteten, hier
ist es die körperliche Vereinigung des Liebenden mit der Geliebten, durch
welche er zum Licht, zur Erkenntnis Gottes gelangt. Das könnte wahrlich
für die Menge, die im Liebesakt nur die Befriedigung niedriger Begierden sieht,
ein Anlass für Hohn und Spott bieten, wäre der Gedanke hier nicht in so
vollendeter dichterischer Sprache verschlüsselt. Für Goethe ist jedoch der
Geschlechts¬akt ein Teil des Werdens in der Natur, und die Natur ist für ihn
eine Manifestation Gottes! Beim islamischen Mystiker el Halladj (hingerichtet
922) hat die Vereinigung mit Gott, wie wir oben gesehen haben, die Bedeutung
der völligen Auslöschung seiner selbst bis hin zum Märtyrer¬tod.
Bestimmend bei Goethe ist hingegen das Moment von Polarität und Steigerung
durch das Aufgehen im Anderen, in der Geliebten.
Im § 573 seiner Enzyklopädie von 1830 zitiert Hegel voll Begeisterung aus
Friedrich Rückerts Übersetzungen der Werke des bereits erwähnten
islamischen Mystikers Djelaleddin Rumi (1207-1273), als Beispiel dafür, wie bei
ihm "die Einheit der Seele mit dem Einen, auch diese Einheit als Liebe
hervorgehoben wird", und zugleich, um "eine Vorstellung von der
bewunderungs¬würdigen Kunst der Übertragung des Herrn Rückert" zu
geben. Wären Rückerts Übersetzungen nicht erst sieben Jahre nach der
Entstehung von Goethes Selige Sehnsucht, nämlich im Taschenbuch der Damen
auf das Jahr 1821 veröffentlicht worden, könnte man meinen, das von
Hegel zuletzt daraus zitierte Gedicht hätte neben dem des Hafis ebenfalls
Goethe als Anregung vorgelegen:
Wohl endet Tod des Lebens Not,
Doch schauert Leben vor dem Tod.
So schauert vor der Lieb' ein Herz,
Als ob es sei vom Tod bedroht.
Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.
Du laß ihn sterben in der Nacht
Und atme frei im Morgenrot.
Wenn man sieht, wie Goethe in seinem Gedicht "Selige Sehnsucht" aus
den verschiedensten poetischen Mosaiksteinen, welche für sich genommen schon
herrliche Kleinode darstellen, ein in vielen Farben schillerndes Ganzes geformt
und damit zu einer vollendeten Einheit verschmolzen hat, so beugt man sich in
Ehrfurcht vor der Größe seines Genies.
Einer der Mosaiksteine, die zur Entsehung dieses Gedichts beigetragen haben
mögen, lässt sich freilich auch in einem Gleichnis Jesu sehen, in
welchem der Gedanke des "Stirb und werde!" bildlich gefasst wird.
Goethe war es aus Johannes 12, Vers 24 zweifellos bekannt: "Es sei denn,
dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein; wo es
aber erstirbet, so bringet's viel Früchte." Aber Goethe gebraucht in
"Selige Sehnsucht" eben nicht dieses ihm von Kindheit an vertraute
Bild, sondern wählt aus der islamischen Mystik das Bild des im Licht sich
verzehrenden Falters, und erschließt sich damit, wie oben gezeigt, eine
Reihe weiterer metaphysischer Dimensionen. Goethe hat seine Herkunft aus einem
christli¬chen Elternhaus und seine klassische Bildung nie verleugnet. Seine
Begegnung mit dem islamischen Orients war für ihn jedoch nicht die Entdeckung
einer ihm völlig fremden Welt mit exotischem Reiz, sondern zugleich die
Begegnung mit Altvertrautem wie eine Erweiterung seines Gesichtskreises.
Wenn er im Divan, auf einen Koranvers gestützt, dichtete:
Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
so können wir darin die bildlich gefasste Bedeutung des von ihm
geprägten Begriffs der 'Weltliteratur' wiedererkennen, denn dieser war für
ihn nicht schlicht ein neues Wort, das er der deutschen Sprache hinzugefügt
hätte, sondern eine programmatische Anweisung zu einem neuen
Verständnis der menschlichen Welt. Und wenn wir über Goethes erstaunlich
enge Beziehung zur Welt des Islam nachdenken, sollten wir ebenso den Vierzeiler
beherzigen, den Goethe während seiner Arbeit an Faust II verfasst hat:
Wer sich selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen."
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